Columbine High School: Er rief „Kuckuck“ und schoss ihr mit einer Schrotflinte mitten ins Gesicht - WELT (2024)

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Eigentlich beginnt diese Geschichte am 19. April 1993. An diesem Tag stürmten Beamte des FBI einen Häuserkomplex in dem texanischen Städtchen Waco, in dem sich der selbst ernannte Messias David Koresh mit seinen Anhängern verschanzt hatte. Ein Feuer brach aus. 79 Menschen starben, unter ihnen Frauen und Kinder.

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Zu den Zaungästen der Katastrophe gehörte ein gewisser Timothy McVeigh. Er verteilte Flugblätter und Autoaufkleber, in denen er sich für ein uneingeschränktes Recht auf Waffenbesitz aussprach. Auf einem seiner Autoaufkleber stand: „Wenn der Besitz von Schusswaffen zum Verbrechen wird, dann werde ich zum Verbrecher.“

McVeigh war grundsätzlich gegen Steuern, hielt die Bundesregierung in Washington für eine sozialistische Bande und hasste Schwarze. Waco hielt er für den Beweis, dass die US-Behörden sich gegen Leute wie ihn verschworen hätten. Genau zwei Jahre nach der Katastrophe, am 19. April 1995, fuhr er einen mit Sprengstoff beladenen Lastwagen vor ein Gebäude in Oklahoma City, in dem verschiedene Bundes-Institutionen untergebracht waren, und entzündete die Zündschnur. Timothy McVeighs Bombe tötete 168 Menschen, unter ihnen 19 Kinder.

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Zwei Schüler in Littleton, einem Vorort von Denver (US-Bundesstaat Colorado), begeisterten sich für Timothy McVeighs Tat. Der eine, er hieß Eric Harris, war 18 Jahre alt und sah auf verwegene Art gut aus: militärisch kurzes, dunkles Haar, freche Augen, breiter Mund. Er kam bei Mädchen an. Der andere hieß Dylan Klebold, etwas jünger, schlaksig, hatte langes Haar und verträumte Augen. Weil er mit Mädchen überhaupt kein Glück hatte, hielt er sich für den einsamsten Menschen der Welt und wollte sterben. Harris und Klebold waren ein seltsames Paar: Gegensätze können sich anziehen.

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Sie planten, zum Jahrestag des Feuers von Waco und des Terroranschlags von Oklahoma, ihre Schule – die Columbine High School – in die Luft zu jagen. Sie wollten das Attentat von Timothy McVeigh aber nicht nur nachmachen; sie wollten es überbieten.

Ungefähr 2000 Schüler besuchten die große Columbine High School. Die meisten von ihnen, und auch die meisten Lehrer, sollten am 19. April 1999 sterben. Der Anschlag von Harris und Klebold sollte sich in drei Stufen vollziehen. Zuerst sollten pünktlich um 11.17 Uhr zwei selbst gebastelte Bomben aus Propangasflaschen, in der Schulcafeteria versteckt, explodieren – wenn die Cafeteria am vollsten war. Allein diese beiden Bomben hätten schon Hunderte Menschen getötet.

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Wenn dann die Überlebenden schreiend aus der brennenden Schule stürmten, sollte Phase zwei beginnen: Harris und Klebold wollten Lehrer und Mitschüler mit Messern, Rohrbomben und Gewehren niedermetzeln. Die beiden rechneten damit, diese Phase nicht zu überleben – sie glaubten, dass Polizisten sie erschießen würden. Trotzdem hatten sie eine dritte Phase geplant: Ihre beiden Autos, in denen weitere Bomben lagen, sollten explodieren und noch ein paar Dutzend in den Tod reißen.

Doch der Plan verzögerte sich um einen Tag, weil Harris noch Munition kaufen wollte, die er erst am Abend des 19. April erhielt. So wurde der 20. April zum Datum des Massakers; zufällig auch der Geburtstag von Adolf Hitler. Eric Harris verehrte die Nazis. Er wollte, dass die Schwachen sterben und die Starken überleben. Am Tag des Mordens trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift „Natürliche Auslese“. Dylan Klebold, dessen Mutter Jüdin war, teilte diese Begeisterung nicht. Beide aber schwärmten für die deutsche Metal-Band KMFDM, und Harris notierte in seinem Tagebuch, dass sie just an diesem Tag ihre neue CD „Adios“ herausbrachte.

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Harris und Klebold hatten sich aus dem „Anarchist Cookbook“ informiert, wie man Bomben bastelt. Glücklicherweise ist das „Anarchist Cookbook“ ziemlich unzuverlässig; glücklicherweise verstanden Harris und Klebold wenig von Stromkreisen. Ihre großen Bomben zündeten nicht.

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Um 11.19 Uhr erkannten das die beiden. Sie begannen zu schießen. Ihre Schüsse galten Mitschülern, die friedlich im Gras vor der Schule saßen und ihr Mittagessen verzehrten. Es folgte ein Feuergefecht mit einem Polizisten, der per Funk herbeigerufen worden war; keine Opfer. Ein paar Minuten später betraten die Mörder die Schule. Sie warfen Bomben und schossen auf jeden, den sie sahen. Um 11.29 Uhr betraten die Mörder die Schulbibliothek und brüllten: „Alle aufstehen!“ Einer von ihnen sagte: „Jeder, der einen weißen Hut aufhat oder einem Sportteam angehört, stirbt heute.“

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Columbine-Massaker

Wenn der geliebte Sohn zum Massenmörder wird

Klebold rief Harris zu: „Hier ist ein nigg*r!“, als er einen schwarzen Mitschüler entdeckte. Harris schlug zweimal auf einen Tisch, unter den eine Schülerin gekrochen war, rief „Kuckuck!“ („Peekaboo!“) und schoss ihr mit einer angesägten Schrotflinte mitten ins Gesicht. Insgesamt verbrachten die beiden sieben Minuten in der Bibliothek. Sie hatten dort 56 Menschen in ihrer Gewalt. 36 blieben unverletzt.

Harris und Klebold hätten genug Munition gehabt, um alle zu töten. Vielleicht taten sie es deshalb nicht, weil ihnen das Morden langweilig wurde. Um 11.44 Uhr betraten sie die Cafeteria und versuchten, eine ihrer Gasflaschenbomben doch noch zur Explosion zu bringen; Harris schoss auf sie, dann warf Klebold einen Molotowco*cktail. Aber das Feuer wurde bald von der Sprinkleranlage erstickt.

Dann kehrten die beiden in die Bibliothek zurück. Sie warteten darauf, dass ihre Autobomben explodierten. Als abermals die Explosionen ausblieben, feuerten sie auf die Polizei, ohne jemanden zu treffen. Genau um 12.08 Uhr begingen die beiden Selbstmord. Harris steckte sich den Lauf in den Mund, Klebold setzte sich seine Pistole an die Schläfe.

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Schießerei in Schule

Lehrer starb, weil er seine Schüler schützte

Eric Harris und Dylan Klebold ermordeten an jenem Tag zwölf Schüler und einen Lehrer; dieser wurde bei dem Versuch, seine Schützlinge zu retten, angeschossen – eine Kugel durchschlug seinen Kiefer und brach ihm mehrere Zähne – und verblutete dann während der drei Stunden, die seine Schüler auf Hilfe warteten. Die Überlebenden erinnern sich, dass die Mörder beim Morden sehr lustig waren. Sie lachten, sagten „großartig“ oder riefen „Juhu!“, wenn ihre Kugeln ein Ziel fanden, und hatten überhaupt sehr viel Spaß.

Nach dem Massaker kamen Erklärungsversuche, dann Verschwörungstheorien. Die Gruftis seien schuld. Der Sänger Marilyn Manson. Videospiele. Das Mobbing an amerikanischen Highschools. Satan. Der linke Filmemacher Michael Moore glaubte, die US-Außenpolitik habe die Mentalität der Mörder geprägt: Im April 1999 war die Nato gerade damit beschäftigt, Ziele in Belgrad zu bombardieren, um einen Genozid im Kosovo zu verhindern.

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Eine christliche Heiligenlegende entstand: Die Mörder hätten die Schülerin Cassie Bernall gefragt, ob sie an Gott glaube, und sie erschossen, als sie mit Ja antwortete. Ihre Mutter schrieb später ein ganzes Buch darüber. Das Problem: Die Geschichte stimmte nicht. Cassie Bernall starb, ohne dass sie ein Wort gesagt hätte.

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Aber nicht nur diese Story war unwahr. Auch die harmlosen Gruftis hatten nichts mit diesem Massaker zu tun. Sogar die amerikanische Außenpolitik war diesmal unschuldig. Harris und Klebold hatten sich außerdem nur mäßig für Videospiele interessiert, und sie waren nicht wirklich gemobbt worden. Also: Eine sinnlose Tat, für die es keine Erklärung gibt?

Nein. Der Psychologe Dwayne Fuselier, der für das FBI arbeitete und dessen Sohn selber an die Columbine High School ging (er überlebte unverletzt), fand die Lösung, als er sich mit den Tagebüchern der Täter beschäftigte. Eric Harris war ein Psychopath – ein Mensch, der keiner Gefühle fähig war und sich unendlich langweilte.

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Seine Notizen handelten von nichts als Hass und Verachtung für den Rest der Menschheit. Alles Dummköpfe! Hoffentlich würden sie sich bald selber auslöschen, und wenn die Menschheit sich nicht damit beeilte, würde er, Harris, ihr eben ein bisschen behilflich sein.

Die Tagebücher von Dylan Klebold waren anders: Sie handelten von Liebe. Klebold zerfloss geradezu vor Liebe. Zum Beispiel schwärmte er hilflos für ein Mädchen. Doch er hatte noch nie mit ihr gesprochen. Auf den letzten Seiten zeichnete Klebold nur noch Herzen. Rote Herzen und das Zeichen für Unendlichkeit.

Die beiden waren wie Yin und Yang, zwei Hälften eines mörderischen Ganzen: hier Brutalität, dort Sentimentalität. Eric Harris, so erklärte Dwayne Fuselier, wollte vor allem eines: töten. Es war ihm egal, wenn er dabei selbst starb. Klebold dagegen wollte vor allem: sterben. Er nahm aber in Kauf, wenn auch andere dabei krepierten.

Die ungeheuerliche Tat von Harris und Klebold ist vielfach nachgeahmt worden. Zum Beispiel an der Virginia Tech in Blacksburg am 16. April 2007 (33 Tote); am 14. Dezember 2012 an der Sandy Hook Elementary School in Newtown in Connecticut (28 Tote, davon 20 sechs- und siebenjährige Kinder); am 14. Februar 2018 an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland in Florida (17 Tote). Von den Massenschießereien in Bars, auf Parkplätzen, in Supermärkten, in Kinosälen, in Restaurants sowie der Schießorgie von Las Vegas am 1. Oktober 2017 mit 58 Toten ganz zu schweigen.

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Amoklauf in Erfurt

„Ich hab hier absoluten Ernst“

Auch in Deutschland gab es ähnliche Amokläufe an Schulen. Etwa in Erfurt am 26. April 2002 mit 16 Toten und in Winnenden bei Stuttgart am 11. März 2009 mit 15 Opfern. In beiden Fällen richteten sich die Täter selbst. Auch der Amoklauf eines 18-Jährigen in München 2016 war wohl von ähnlichen Massakern inspiriert.

Auch ganz aktuell drohen ähnliche Verbrechen. So suchte das FBI seit dem 15. April 2019 mit Hochdruck nach Sol Pais, einer 18-Jährigen aus Florida, die nach Colorado aufgebrochen war, weil sie von dem Massaker in Littleton besessen sei. Zahlreiche Schulen wurden vorsichtshalber geschlossen. Zwei Tage später fand man sie erschossen auf einem Campingplatz.

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Häufig wird behauptet, an den US-Waffengesetzen (die es ermöglichen, ganz legal halbautomatische Gewehre zu erwerben) habe sich seit dem Massaker von Columbine 1999 nichts geändert. Das stimmt nicht: Sie wurden nach jeder Bluttat gelockert. Zu den ersten Maßnahmen der Regierung Trump gehörte ein Gesetz, das es Personen mit psychischen Krankheiten leichter macht, an Waffen zu kommen.

Allerdings organisierten die Überlebenden der Massenschießerei in Parkland – lauter Jugendliche – eine riesige Demonstration in Washington, zu der auch viele ältere Leute kamen. Emma Gonzalez hielt dabei eine wütende, traurige Rede voller Klarheit, die ebenso in die Annalen eingehen wird wie die Ansprachen von Abraham Lincoln.

Ob das etwas nützt, ist freilich ungewiss. Der Sohn des Verfassers nimmt an seiner Schule regelmäßig an „lockdown drills“ teil: Seine Mitschüler und er verbarrikadieren sich in ihrem Klassenzimmer und verhalten sich mucksmäuschenstill. Solche Übungen gehören mittlerweile an US-Schulen zur Routine. Der Sechsjährige glaubt, es handle sich um ein Spiel. Niemand hat es übers Herz gebracht, ihm die Wahrheit zu sagen: Du übst, dich in deinem Klassenzimmer zu verbarrikadieren, weil eines Tages ein Mensch mit einer Waffe in deine Schule eindringen könnte, dem es Spaß macht, kleine Kinder wie dich in ihrem Blut liegen zu sehen.

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